Frauenforschung: Naturwissenschaft, Technik, Medizin
Frauenfragen interessant?
Während des Studiums hatten mich Frauenfragen kaum interessiert. Es fiel mir zwar auf, dass es am Philosophischen Institut der Universität Tübingen keine einzige Professorin gab. Dennoch war ich der Meinung und sogar der Überzeugung, die Frauenemanzipation sei erreicht und gegeben. Was dies änderte? Das war eine Wahrnehmung während meines Organischen Praktikums am Chemischen Institut der Universität. Dort am Schwarzen Brett im Flur hingen Informationen eines großen Chemischen Konzerns aus, in welchen den Herren Professoren die Einladung für deren Diplomanden und Doktoranden übermittelt wurde, sich um ein Praktikum in diesem Konzern zu bewerben. Aus dem Text ging eindeutig hervor, dass sich dieser ausschließlich an männliche Interessierte richtete. Dies traf mich schwer, hatte doch mein Bruder schon ein solches Labor-Praktikum bekommen – ich wollte dies auch und sollte dies nicht machen dürfen, nur weil ich eine Frau war? Der Aushang führte zum Nachdenken. Sind für chemische Labortätigkeiten anstatt Hirn und Hand bestimmte Genitalien nötig?
Als ich als frisch gebackene Magistra mit wissenschafts journalistischen Erfahrungen nach Verdienstmöglichkeiten Ausschau hielt, fuhr ich also zu einem Kongress von Frauen in Naturwissenschaften und Technik und berichtete darüber in der Zeitschrift Emma. Der Artikel wurde total umgeschrieben und war mein letzter dort, jedoch: es war der Beginn einer vielfältigen Forschungs- und Publikationstätigkeit zu diesem Themenbereich.
Es ging zum einen um die Fragen: wie sind die Arbeitsbedingungen heute, und die Berufsperspektiven? Wo sind unsere geistigen Vorfahrinnen? Gab es wirklich keine genialen Mathematikerinnen, Physikerinnen, Chemikerinnen, Biologinnen, Ingenieurinnen oder Medizinerinnen, wie vielfach behauptet wird?
Zum anderen entstand die Frage: Wie, wenn mehr Frauen in Forschung und Entwicklung tätig wären, würde dann userfreundlicher, ästhetischer, natur- und sozialverträglicher usw. gearbeitet, entwickelt und angewandt werden? Also kurzgefasst: Forschen Frauen anders? Auf diese Frage gibt es keine absolute auf ewig gültige Antwort, jedoch lassen sich für bestimmte Rahmenbedingungen klare Aussagen dazu treffen.
Was gut ist für die Mädchen, ist auch gut für die Buben
Für die Didaktik der Naturwissenschaften gibt es immerhin eine solche sogar sehr klare Antwort: Solange es eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung und damit auch Erziehung bei uns gibt, gilt: Was gut ist für die Mädchen, ist auch gut für die Jungen. Das heißt: wenn der naturwissenschaftliche Unterricht sich an den Interessen der Mädchen ausrichtet, dann taugt er auch für die Buben und Burschen. Das umgekehrte gilt nicht. Dies hat schon Martin Wagenschein (1896 – 1988) gezeigt und Ina Wagner in den 1980er Jahren empirisch gut belegt. Zum Beispiel anhand der Testaufgabe „Zeichne eine Glühbirne“ (LEDs gab es damals noch nicht). Die Mehrheit der Mädchen in den Test-Schulklassen stellte die Glühbirne in ihrer Funktion für die menschliche Umgebung dar, oft als Deckenleuchte zur Erhellung eines Raumes. Die Buben begnügten sich mit detaillierten Zeichnungen des Aufbaus einer Glühbirne, betonten also lediglich notwendige Merkmale der Funktion. Die Mädchen bewerteten darüber hinaus die kontextuellen, sozialen und gebrauchs bezogenen Aspekte hoch und integrierten sie in ihre Wahrnehmung, Beobachtung, Beschreibung und ggf. Analyse. Die Buben könnten also von ihnen lernen. Denn diese Sichtweise ist angemessen für die Herausforderungen nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Zukunft.
Jede Technik und Technologie, soll sie angewandt werden, braucht Personen, die sie bedienen können und wollen. Anders ausgedrückt: eine Technik oder Technologie, welche nicht in soziale Strukturen eingebunden ist, gibt es nicht. Wenn dies – wie zum Beispiel kulturelle Gewohnheiten oder geschlechtsspezifische Besonderheiten – nicht ausreichend berücksichtigt wird, kann die Technik nicht gut an die menschlichen Bedürfnisse angepasst werden. Ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, oder haben Sie sich schon mal gefragt, dass oder warum die Sicherheitsgurte in Personenkraftwagen für die weibliche Anatomie nicht gerade günstig sind?
Oder eine gut gemeinte neue Technologie funktioniert einfach nicht. Manches Entwicklungsprojekt ist daran gescheitert. Zwei Beispiele:
– ein Schöpfgerät für Wasserbrunnen ist analog zu einem Fahrrad gebaut. Diejenigen, welche für das Wasserholen zuständig sind (Frauen), wollen sich um nichts in der Welt auf diese Sättel setzen.
– Westliche männliche Landwirtschafts Experten bringen der männlichen Bevölkerung eines Dorfes bei, wie eine neue, ertragreichere oder resistentere Pflanzensorte genau anzubauen ist (z.B. in welcher Tiefe die Pflanzen zu setzen sind). Nach Abreise der Experten verfällt das Projekt. Grund: in dieser Bevölkerungsgruppe oder Nation sind für den Anbau von Feldfrüchten die Frauen zuständig.
Das heißt: Die Basis jeder Entwicklung besteht in der Berücksichtigung der Kompetenzen und Interessen der Frauen (mehr als 50 Prozent eines Geburtsjahrganges sind weiblich), ihrer Beteiligung und eventuell auch Führung.
Vergleichbar und gleichzeitig weitergehend wurde auf gesellschaftstheoretischer Ebene von dem französischen Theologen und Sozialphilosophen Charles Fourier (1772–1837) ein Grundsatz formuliert, hier in den Worten Rosa Luxemburgs wiedergegeben, der generell für menschliche Gesellschaften gelten darf: In jeder Gesellschaft ist der Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.
In meinen Lehrveranstaltungen zu Frauen im globalen Süden aus philosophischer Sicht, an der Universität Wien, wurde dies Konzept regelmäßig zur Diskussion gestellt, nämlich um eine Vergleichsbasis für den Blick auf sehr unterschiedliche Gesellschaften zu gewinnen.
Was verstehen andere Kulturen unter Glück? war eine weitere Frage. Und zu ergänzen ist: Welche Zusammenhänge kann es geben es zwischen den beiden Konzepten und ihrer Bedeutung?
Weibliche* Freiheit ist gut für die gesamte Gesellschaft
Was heißt das also: In jeder Gesellschaft ist der Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation. Damit ist gemeint: aus der Sichtung des Grades an Freiheit, welchen Frauen* in einer Gesellschaft als Gruppe gewonnen haben und genießen können, lässt sich herauslesen, wie es um die Qualität der allgemeinen Freiheitsrechte in dieser Gesellschaft ganz generell steht, also derjenigen aller Mitglieder der Gesellschaft, auch der Buben und Männer. Es lässt sich daraus also ein allgemeines Kriterium gewinnen zur Bewertung von gesellschaftlichen Lagen und Entwicklungen.
Gleichzeitig kann dieses Konzept von Charles Fourier auch als Orientierung dazu dienen, in welche Richtung gesellschaftliche Veränderungen gehen müssen, welche allen nützen: Frauen, Männern, Kindern, und auch allen diskriminierten Geschlechtern, ethnischen Zugehörigkeiten und Identitäten, letzteres zum Beispiel in Form von Minderheitenrechten. Eine Zukunftsaufgabe könnte es sein, dies Konzept mit modernen Messinstrumenten gemeinsam zu betrachten, wie zum Beispiel dem Bruttonationalglück (in Bhutan: Gross National Happiness Index) und den internationalen Gender-Indices (Gender Inequality Index – GII, Index zu Gender-Normen – SIGI, Gender Gap Index, u.a.). Vor allem für Länder, zu welchen brauchbare (robuste) statistische Daten vorliegen.
Frauen/forschung in Naturwissenschaften, Technik, Medizin
Vergleichbare Grundideen lagen implizit auch meinen Untersuchungen über die Lage von Frauen in naturwissenschaftlich-technischen Männerdomänen zugrunde. Denn in einer durch und durch auf Technik und Technologien, Naturwissenschaften (und integriert darin auch Mathematik) basierenden Gesellschaft (Technostruktur der Gesellschaft) ist die Frage selbstverständlich essentiell, inwiefern die Mehrheit der Bevölkerung durch ihre einzelnen Mitglieder Gestaltungs Einfluss und Wirkungsmacht in diesen Bereichen besitzt oder nicht.
Durch eine damals ziemlich mühsame Analyse der geschlechtsspezifischen Verteilung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf die verschiedenen universitären Hierarchiestufen konnte ich zeigen, dass die historische Chance, die Vertreibung von Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb durch die Nationalsozialisten, wenigstens etwas wieder gut zu machen, nämlich beim Ausbau der Professuren in den 1960er Jahren, überhaupt nicht genutzt worden ist. In den naturwissenschaftlich-technischen Fächern waren Frauen auf der Ebene der Professuren massiv unterrepräsentiert. In Assistenz Positionen war der Frauenanteil etwas höher. Die Studierendenvertretung der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien brachte meine Untersuchung zusammen mit exemplarischen Interviews mit Professorinnen als Broschüre heraus, die schnell vergriffen war und später aktualisiert neu aufgelegt wurde: Naturwissenschaftlerinnen und Technikerinnen heute. Dokumentation. Situationsanalyse. Feministische Kritik, Wien 1987.
Es waren auch Studentinnen (in dem Fall in Deutschland), die es erreichten, dass eine sachlich nicht begründbare sexistische Darstellung von Fourier-Analysekurven über akustische Wellen (nach Joseph Fourier, 1768–1830) aus dem gängigen Physik-Lehrbuch von Gehrtsen gestrichen wurde. Die männlichen Physikstudenten konnten sich nun besser auf die tatsächlichen Inhalte konzentrieren und wurden durch eine kurvige vermeintlich sexy Frauenschablone nicht mehr abgelenkt, und ihr Frauenbild nicht in die falsche Richtung gelenkt an dieser Stelle. Die Automobilwerbung könnte sich von solcher Rücknahme etwas abschauen.
Die Anfänge in Österreich
Während Dorothea Gaudart 1975 in ihrer Dissertation eine umfangreiche Studie über den Zugang von Mädchen zu technischen Berufen vorgelegt hatte, und Ina Wagner in den 1980er Jahren zur Physik arbeitete, sowohl physikdidaktisch als auch soziologisch, leistete ich diese Grundlagenarbeit speziell für die Biowissenschaften und für die Naturwissenschaften und Technik generell.
Die medizinischen Wissenschaften gehören hinsichtlich ihrer naturwissenschaftlichen Basis, wegen der vielfach misogynen Personalpolitik und Alltagsatmosphäre an den Universitäten sowie wegen der Betroffenheit von Frauen als medizinischen Objekten zu diesen Gebieten der kritischen Forschung dazu, ebenso wie die Humanbiologie. Die eigentliche Gender Medizin entwickelte sich parallel, zunächst vor allem in Innsbruck, durch Margarethe Hochleitner.
Wir waren an die zehn Jahre in Österreich die einzigen Expertinnen für diese Gebiete und freuten uns über jede Gelegenheit zum interdisziplinären Austausch.
Auch wenn es einige leichte Verbesserungen gab in den letzten fünfzig Jahren, so ist doch nach wie vor gerade in den am meisten technischen Fächern wie Physik, Thermodynamik, Elektrotechnik, Maschinenbau (inzwischen auch Mechatronik) der Frauenanteil der Studierenden gering, und in der Professorenschaft an den Fingern abzählbar. In den Biowissenschaften sieht es besser aus, wobei der großen Zahl an Studentinnen allerdings nicht der entsprechende Anteil an Professorinnen gegenüber steht. In der Medizin gelang es – jedenfalls in Österreich – Gender-Medizin-Professuren einzurichten, nachdem eine umfassende Studie des National Institute of Health der US-amerikanischen Gesundheitsministerium bei koronaren Herzerkrankungen wesentliche geschlechtsspezifische Unterschiede in Diagnostik und Therapie erschreckend belegt hatte. In Berlin konnten einige naturwissenschaftlich-technisch ausgewiesene Wissenschaftlerinnen Professuren mit einer Gender-Schwerpunkt erringen. In Österreich besteht keine solche Professur.
Neubewertung der Wissenschaftsgeschichte und Bedeutung heute
Die Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin wurde neu bewertet aus feministischer Sicht. Eine Voraussetzung dafür besteht in der kritischen Analyse der Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Ich selber habe bei Tagungen von Historikerinnen zu den Mustern der Verdrängung, Herabsetzung oder schlicht Ignorierung weiblicher Leistungen, vorgetragen, welche ich durch eine qualitative Inhaltsanalyse aller wissenschaftsgeschichtlichen Werke, die ich damals an der Universitätsbibliothek Wien finden konnte, heraus analysieren konnte. In dieser Untersuchung schloss ich in Hinsicht auf die angewandte wissenschaftliche Methode an die mit meiner Magisterarbeit erlernte Analysemethode an. Ergebnis war u.a. der Beitrag Die Verdrängung der Frauen aus Naturwissenschaft und Technik, in: Anne Schlüter / Annette Kuhn (Hg.): Lila Schwarzbuch, Düsseldorf 1986, S. 234–256.
Die von mir gefundenen Muster und Mechanismen dieser mangelnden Wertschätzung und Anerkennung von Frauen und ihren Leistungen lassen sich nicht nur in der Wissenschaftsgeschichte, sondern auch im aktuellen Berufsalltag der meisten Frauen finden, in den unterschiedlichsten Branchen und auf allen Hierarchiestufen. Dies zeigt der Austausch unter Frauen auf Fachtagungen und im Privatleben.
Physiker/innen
Historikerinnen wie Ruth Sime publizierten unter anderem zu Lise Meitner und Otto Hahn, die die wesentlichen theoretischen Grundlagen der Atomphysik geschaffen hatten. Auch wenn sich sagen lässt: Wäre es doch angesichts von Atombombe und Endlagerproblematik von AKWs lieber nicht dazu gekommen – die wissenschaftliche Leistung Meitners ist unbestritten. Warum dann wurde lange ihr originaler Berliner Arbeitstisch (gemeinsam mit Otto Hahn) im naturwissenschaftlichen Deutschen Museum in München ausgestellt mit einer Tafel, die ihn als lediglich Hahns Arbeitstisch bezeichnete? Lise Meitners wesentlichen Anteil hatte man also im wahrsten Sinne des Wortes unter den Tisch fallen und die geniale Physikerin vor Ort verschwinden lassen. Historikerinnen, welche dies kritisierten, wurden nach Berichten Betroffener in den Fachgesellschaften zunächst ziemlich angefeindet, doch schließlich wurde die Beschriftung vom Museum korrigiert. Dies ist inzwischen also selbst Teil der Naturwissenschaftsgeschichte. Inzwischen bemühen sich nach meinem Eindruck die technischen Museen generell, den weiblichen Teil der Wissenschafts- und Technikgeschichte zu berücksichtigen und so den Mythos vom fehlenden weiblichen Genie zu korrigieren.
Auch die Fachtagung Naturwissenschaft und Technik – doch Frauensache? hat 1986 im Deutschen Museum bzw. dem Kerschensteiner Kolleg stattgefunden. Diese Fachtagung wurde in enger Zusammenarbeit mit einem Arbeitskreis zur Naturwissenschaftsgeschichte und dem Zusammenschluss Frauen in Naturwissenschaften und Technik (FiNuT) organisiert, welcher damals schon zehn Jahre Bestand hatte.
Um das in der Öffentlichkeit wahrscheinlich bekannteste Naturwissenschaftsgenie, nämlich den Physiker Albert Einstein, geht es in einer Untersuchung meiner zur Kontroverse um die Ko-Autorinnenschaft Mileva Maric´s an den Arbeiten Einsteins bis 1913. Fragen u.a.: Kommt der Studienkollegin und späteren Ehefrau Albert Einsteins, Mileva Maric, ein wesentlicher Anteil – wenn nicht sogar die Ko-Autorinnenschaft – an den frühen Arbeiten Einsteins (bis 1913) zu, für die später – 1921/22 – er mit dem Nobelpreis geehrt wurde, und zu welchen die Publikation zur speziellen Relativitätstheorie gehörte? Diese Frage kann wegen der unvollständigen Quellenlage nicht eindeutig beantwortet werden, ist gleichwohl gut begründet. Sie berührt Einsteins Funktion als Idol und Identifikationsfigur vieler Physiker. Entsprechend empfindlich reagieren manche darauf, wenn auch nur eine solche Frage gestellt wird. In meiner Untersuchung habe ich Struktur, Formen und Argumentationsweisen dieses Diskurses analysiert und die mit ihnen zusammenhängenden Positionen. Wer geht wie mit den Quellen um, und was trägt zu den so unterschiedlichen Bewertungen der Rolle Mileva Maric´s und ihrer Zusammenarbeit mit Albert Einstein bei? Die Familiengeschichte (uneheliches Kind, Scheidung) und die nationalen Zugehörigkeiten der Biographen und Biographinnen beeinflussten die wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen, so eines meiner Ergebnisse. Dieser Aufsatz wurde international sehr beachtet, ich erhielt zahlreiche Anfragen und auch Zusammenarbeitsangebote. Der Beitrag erschien etwas aktualisiert und leicht gekürzt 2005 auch in einem Band der Universität der Künste in Berlin.
Eine der ersten Genetikerinnen
In anderer Weise neu bewertet werden musste auch das Bild der Genetikerin Elisabeth Schiemann (1881–1972). Hier ging die wissenschaftshistorische Korrektur von einem männlichen Mathematiker aus, nämlich dem Sohn der Züchtungsforscherin Ursula Nürnberg, die ehemals Schiemanns Assistentin gewesen war und später ebenfalls Professorin an der Berliner Universität wurde. Elisabeth Schiemann war eine der ersten Genetikerinnen in Deutschland. Sie verband naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Methoden in der Archäobotanik, speziell der internationalen Geschichte der Kulturpflanzen, und sie widerstand als Genetikerin und als Person und Mitglied der Bekennenden Kirche aktiv dem Nationalsozialismus. Da sie – als weibliche Wissenschaftlerin – vom NS-Regime ihrer universitären Positionen enthoben wurde, wurde sie von der Frauenforschung zwar wiederentdeckt, galt aber zunächst vor allem als eines der beruflich betroffenen Opfer des Nationalsozialismus. Gleichwohl, so konnte von Rainer Nürnberg, Ekkehard Höxtermann und mir, gezeigt werden, setzte sie ihre pflanzengenetischen Arbeiten unbeirrt auch unter den widrigsten Umständen aktiv fort: Mit Frauenkultur zur Anerkennung – Elisabeth Schiemanns Erfahrungen in den Naturwissenschaften nach dem Bruch mit Erwin Baur 1929, in: Reiner Nürnberg u.a. (Hg.): Elisabeth Schiemann (1881−1972): Vom AufBruch der Genetik und der Frauen in den UmBrüchen des 20. Jahrhunderts, Rangsdorf 2014, S. 410–452.
Dokumentation und Bibliographie zu Frauenforschung in Naturwissenschaft, Technik, Medizin
Wer weitere Quellen und Arbeiten finden sie – zumindest bis 1993 – in meiner entsprechenden Dokumentation und Bibliographie von Literatur, Zeitschriften und Adressen aufgelistet
Intelligent gelesen verschafft dieses umfangreiche Werk einen spannenden Einblick in die Fragestellungen und Themen der damaligen feministischen und Frauenforschung in diesem Gebiet. Im Internet lässt sich dies bis heute so nicht finden
Wissenschafts- und Technikkritik aus der Perspektive von Frauen
Neben der Suche nach Vorgängerinnen und der Prüfung der realen Berufsperspektiven wurden auch Konzepte, Methoden, Denkstile und Theorien der Naturwissenschaften einer kritischen Prüfung unterzogen. Denn aus der Unterprivilegierung und Unsichtbar-Machung von Wissenschaftlerinnen sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im beruflichen Alltag entstand die Frage, ob sich die geschlechtsspezifische Ungleichheit nicht auch in diesen als essentiell betrachteten Aspekten der Naturwissenschaften widerspiegeln würden, welche in ihrem Objektivitätsanspruch unangreifbar seien – siehe oben.
Die entsprechenden Ansätze feministischer Kritik, speziell im deutschsprachigen Raum, stellte ich in meiner Doktorarbeit Feministische Kritik an Naturwissenschaft und Technik. Eine Einführung, zur Diskussion. Sie wurde vorab vom Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik der Universität Hamburg 1989 publiziert und führte zu zahlreichen Vortragseinladungen meiner im gesamten deutschsprachigen Raum. Manch eine wurde inspiriert, selber auf diesem Gebiet weiterzuarbeiten.
Ich selber tat dies auch in vielen Analysen und Beiträgen. Zum einen bezogen auf Naturwissenschaften allgemein, mit Beispielen aus mehreren Fachdisziplinen, wie in dem frühen Aufsatz: Wissenschaft und weibliche Erfahrung. Zu den Grenzen des Geschlechts in den Naturwissenschaften, in: Paul K. Feyerabend/Christian Thomas (Hg.): Grenzprobleme der Wissenschaften, 1985, S. 233–264. Zum anderen bezogen auf meinen Schwerpunkt Lebenswissenschaften, was auch die Medizin berührt.
So befasste ich mich – wiederum systematisch und historisch – mit der westlichen Hirnforschung, die besonders im 19. und 20. Jahrhundert, teilweise mit Wirkungen bis heute, gerade die Erforschung des weiblichen Gehirns zu einem wichtigen Thema machte. Der Hintergrund: Es ging um die Einflussnahme auf die gesellschaftliche Debatte um die Berechtigung von Frauen zum akademischen Studium – bekanntlich erlaubten die europäischen Universitäten Frauen erst um die Jahrtausendwende vom 19. Zum 20. Jahrhundert die Inskription als ordentliche Studierende (mit Ausnahme Zürichs, siehe oben): Hirnforschung und Geschlechtsdifferenz: Anmerkungen zu Hirn, sex & gender, in: Hypatia e.V. (Hg.): 25. Kongreß von Frauen in Naturwissenschaft und Technik 13.– 16. Mai in Darmstadt. Dokumentation 1999, S. 95– 113; überarbeitete wissenschaftsjournalistisch Fassung: Hirnforschung, Geschlechterkampf und Politik im 19. Jahrhundert und aus heutiger Sicht, in: Koryphäe, Nr. 26, November 1999, S. 5–11.
Grundlegende Überlegungen zum dem von mir vertretenen Ansatz bietet der im selben Jahr erschienene ausführliche Aufsatz Wissenschaft in der Dissidenz: Feministische Forschung, Analyse und Kritik in und an den biologischen Wissenschaften – ein innovativer Impuls für Biologie, Frauen- und Genderforschung, in: Barbara Hey (Hg.): Innovationen 2, Wien 1999, S. 163–200.
Es geht in meinen Arbeiten sowohl um Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, als auch um die historischen Darstellungen der Konzepte, Theorien und Inhalte der Naturwissenschaften – jeweils in Wechselwirkung miteinander –, und um das Ziel, ausgehend von der kritischen Analyse und dann darüber hinaus zukunftsfähige Ideen, Konzepte und Inspirationen für die Natur- und Lebenswissenschaften sowie ihrer Theorie und Geschichte zu liefern.
Emanzipatorisches Potential der modernen Biologie
Wie der Titel des Aufsatzes sagt, vertrete ich die Position, dass gerade die modernen Biowissenschaften, speziell Genetik, Zell- und Molekularbiologie, durch ihre Ergebnisse sehr viel emanzipatorisches Potential enthalten, was Fraueninteressen und Geschlechterrollen angeht, also sexistischen Biologismus und dessen Überwindung. Biologie-bashing ist daher, bezogen auf die Biologie des ausgehenden 20 und beginnenden 21. Jahrhunderts, fehl am Platze.
Zum einen bestimmen die DNA (Desoxyribonukleinsäure) oder das Hormon Testosteron keineswegs das konkrete Verhalten eines Menschen, noch die spezifische Persönlichkeitsentwicklung eines Babys, und dies gilt analog auch für die Genetik des Menschen also solche.
Zum anderen geht die menschliche Vererbung nicht nur über die in den Zellkernen von Ei- und Samenzellen enthaltene Desoxyribonukleinsäure (DNA), sondern auch über mitochondriale DNA, welche in der Regel durch die Mütter auf ihre Kinder übertragen wird und sich in den Mitochondrien befinden, allgemein als Kraftwerk der Zelle bekannt. Diese befinden sich in den Eizellen in erhöhtem Ausmaß, weil für die Entwicklung des werdenden Lebens viel Energie benötigt wird.
Analoges gilt für den westlichen Rassismus in Bezug auf Ethnien, Nationen und Gruppen bzw. dessen Überwindung. Menschen haben genetisch mehr miteinander Gemeinsames als voneinander Trennendes: die Unterschiede innerhalb einer Gruppe sind oft größer als diejenigen zwischen angeblichen oder vermeintlichen Rassen, Ethnien, Nationen. Es gibt keine unterschiedlichen menschlichen Rassen, sondern ausschließlich den homo sapiens sapiens. Das ist der Stand des Wissens zur menschlichen Evolution: Eine biologische Grundlage für die Unterscheidung von Rassen gibt es nicht. Daher kann Rassismus auch nicht biologisch gerechtfertigt werden.
Zusammengefasst: Das Verhältnis von Natur und Kultur lässt sich aus biologischer Sicht nicht mehr auf einen solchermaßen konstruierten Gegensatz reduzieren, sondern besteht in vielfach miteinander vernetzten Prozessen, welche außerdem eine zeitliche Dynamik, also Entwicklung (neutral gemeint) aufweisen.
Wie viele Geschlechter hat der Mensch?
Infolge der intensiven Debatten um sex und gender in der Frauenforschung (und nachher Genderforschung) in der sex als biologisch und also als naturgegeben angesehen wurde, und gender als das soziale Geschlecht, geformt durch kulturelle Prägungen und Erziehung – eine Diskussion vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften, wollte ich es genau wissen: Was sagen dazu die Lebenswissenschaften – also die Biologie – dieses biologische Geschlecht, sex. Könnte es sein, dass das, was unter biologischem Geschlecht verstanden wird, auch schon kulturell geprägt ist? Was verstehen andere Kulturen unter diesem Begriff? Ist dies überall auf der Welt gleich? Welche Bedeutung wird dem Geschlechtsunterschied anderswo gegeben, und wie definiert ihn die Biologie? Dies untersuchte ich, von einem interdisziplinären Ansatz ausgehend, mittels einer ausführlichen Sichtung der humanbiologischen Fachliteratur, speziell der entsprechenden Lehrbücher: Sexualdimorphismus, Geschlechtskonstruktion und Hirnforschung, in: Ekkehard Höxtermann u.a. (Hg.): Berichte zur Hydro- und Meeresbiologie und weitere Beiträge der 8. Jahrestagung der DGGTB in Rostock 1999. Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie 5, Berlin 2000, S. 283–324, und aktualisierte die Analyse zwei Jahre später noch einmal für den Band Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik, hg. Ursula Pasero und Anja Gottburgsen 2002, S. 65–108.
Ein wesentliches Ergebnis war, dass es Gesellschaften mit ganz anderen Begrifflichkeiten und Konzepten von Geschlecht gibt, dass sich in manchen Gesellschaften im Laufe des Lebens eines Individuums dessen Geschlechterrolle verändern kann (zum Beispiel von weiblich auf männlich), und dass sich die Geschlechtszugehörigkeit, selbst wenn sie nach den bei uns üblichen Begrifflichkeiten gefasst wird, keineswegs als hie weiblich da männlich darstellen lässt, sondern eher als ein Kontinuum zwischen diesen Polen. Wobei Geschlecht nicht durch ein Kriterium bestimmt wird, sondern durch mehrere. Also nicht nur körperlich (phänotypisch) nach den äußerlich sichtbaren Genitalien bei Geburt und den späteren, sekundären Geschlechtsmerkmalen, nach den Keimdrüsen und chromosomal (genetisch), sondern auch hormonell und gehirnphysiologisch. Hier gibt es, wie auch im Verhalten, ein weites Spektrum von Variationen und Kombinationen im einzelnen Individuum.
Ich lernte durch meine Analyse, dass es intersexuelle Menschen gibt, bei welchen sich keine eindeutige Zuordnung zu männlich oder weiblich treffen lässt. Und durch welche Schwierigkeiten und Traumata, z.B. durch Eindeutigkeit herstellende chirurgische Operationen im Baby- und Kindesalter, diese Menschen belastet werden. Dies ändert sich langsam, vor allem infolge der synergetischen Bemühungen feministischer Biologinnen wie Anne Fausto-Sterling, die Proteste und Aktivitäten von Selbsthilfegruppen, einsichtigen Mediziner/innen und Politiker/innen.
Gentechnik und Reproduktionstechnologien
Klarerweise sollen neue Technologien dem Menschen nützen, einen Sinn ergeben, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Doch wie steht es dabei um Gentechnik und Reproduktionstechnologien? Sind diese ethisch vertretbar? Oder maßen sich Menschen überhebliche Gottgleichheit an, wenn sie durch diese Technologien in natürliche Gegebenheiten eingreifen, womöglich mit unabsehbaren Folgen? Bei einem einzigen Versuchsfeld mögen diese noch gering sein, doch wie ist das bei Massenproduktion in industrialisierter Landwirtschaft?
Unterwerfen sich Frauen mit Kinderwunsch den Profitinteressen medizinischer Macher/innen oder stellt es für sie einen Befreiungsschlag dar, wenn sie trotz mehrerer fehlgeschlagener natürlicher Versuche mithilfe von reproduktionsmedizinischer Technik ein Baby bekommen könn(t)en? Was ist mit sogenannten Leihmüttern? Und weiter: Besteht die Gefahr der Menschenzucht nach Maß, und nach wessen Maß?
Besonders für Frauen aus oder in den entsprechenden Fachgebieten stellen ethische Fragen und die Suche nach Antworten und Orientierung eine laufende persönliche und intellektuelle Gratwanderung dar: mitmachen oder aussteigen? Und an welchem Punkt und unter welchen Rahmenbedingungen? Auch ich war durch öffentliche Vorträge und in der universitären Lehre an diesen Debatten beteiligt. Den Versuch einer Orientierung gab ich in meinem Aufsatz Widersprüche und Orientierungen – Thesen zur Kritik der Gentechnologie, in Maja Pelikaan-Engel (Ed.): Against Patriarchal Thinking, 1992, S. 213–224.
Dabei stellte sich auch die Frage, ob und wenn ja, inwiefern unterschiedliche kulturelle Hintergründe, speziell unterschiedliche Religionszugehörigkeiten und Konzepte von Natur und natürlich, zu unterschiedlichen ethischen Stellungnahmen führen? Wie stehen Christentum, Islam, Buddhismus zu den modernen Gentechniken? Dazu mein Beitrag Naturkonzepte und Gentechnologie, in: Sybille Fritsch-Oppermann (Hg.): Genes the world over. Die Bewertung von Gentechnologie an Pflanzen und Tieren aus der Sicht verschiedener Kulturen, Loccum 1998, S. 59–80.